Die im Erziehungsprozess angewandten Verhaltensweisen haben weitreichende Auswirkungen auf die körperliche, psychische und soziale Entwicklung eines Kindes. Gewalt bedeutet nicht nur, jemanden körperlich zu verletzen, sondern hat auch emotionale und psychische Dimensionen. Verhaltensweisen wie Drohen, Stigmatisieren, bedingte Liebe zeigen, Anschreien, Bestrafen, strafendes Schweigen und Ignorieren werden oft nicht als Gewalt wahrgenommen, können jedoch psychische Wunden hinterlassen und die emotionale Welt des Kindes stark beeinträchtigen.
Solche Verhaltensweisen werden in der Regel verwendet, um das Kind zu kontrollieren, es nach den eigenen Vorstellungen zu lenken, eigene Bedürfnisse über das Kind zu erfüllen oder das Kind zum Gehorsam zu zwingen. Allerdings können auch andere Faktoren derartige Verhaltensmuster begünstigen, wie zum Beispiel:
- Die Überlastung eines Elternteils mit der gesamten familiären Verantwortung
- Die Unfähigkeit der Eltern, ihre eigenen Emotionen angemessen zu regulieren
- Das Fehlen positiver elterlicher Vorbilder in der eigenen Kindheit
- Ein starkes Gefühl der Überforderung im jeweiligen Moment
- Das Aufwachsen in einem Umfeld, in dem ähnliche Verhaltensweisen durch die eigenen Eltern vorgelebt wurden.
Diese Verhaltensweisen, die als psychische und verbale Gewalt angesehen werden, haben folgende Auswirkungen auf das Wohlbefinden des Kindes:
Stigmatisierende Zuschreibungen: Einem Kind negative Eigenschaften zuzuschreiben oder ihm eine bestimmte Identität zuzuweisen und diese wiederholt zu betonen, kann langfristige Auswirkungen auf seine Entwicklung haben. Wenn solche Zuschreibungen wie „faul“, „asozial“ oder „Problemkind“ ständig wiederholt werden, kann das dazu führen, dass das Kind diese Rollen übernimmt und verinnerlicht. Es beginnt, sich selbst so zu sehen, wie es von anderen wahrgenommen wird, auch wenn dies nicht seiner wahren Persönlichkeit entspricht. Solche negativen Zuschreibungen wirken wie ein „Stempel“, der das Kind sein ganzes Leben begleitet.
Stigmatisierende Aussagen wie „Du bist so faul“ oder „Du bist schwer im Umgang“ dienen oft dazu, das Kind zu kontrollieren oder in eine bestimmte Rolle zu zwängen. Besonders in dysfunktionalen Familiensystemen, in denen Beziehungen oft oberflächlich und belastet sind, treten solche Verhaltensweisen häufiger auf. Die Erwachsenen in diesen Familien haben oft das Bedürfnis, ihre eigene Macht und ihren Wert zu steigern, indem sie das Kind als „Sündenbock“ instrumentalisieren. Durch die Zuschreibung negativer Eigenschaften oder das abwertende Sprechen über das Kind versuchen sie, ein Gefühl der Überlegenheit zu erlangen und ihre eigene emotionale Bedürftigkeit zu kompensieren. Diese Art der Kommunikation beeinträchtigt die Identitätsbildung des Kindes und kann seine psychische und soziale Entwicklung negativ beeinflussen.
Strafendes Schweigen: Strafendes Schweigen bedeutet, jegliche Kommunikation mit dem Kind bewusst als Bestrafung zu verweigern. Das Kind wird systematisch ignoriert, seine Versuche, Kontakt aufzunehmen, werden absichtlich unbeachtet gelassen, und es wird durch den Entzug von Aufmerksamkeit und Zuwendung isoliert. Diese Form der emotionalen Sanktionierung dient dazu, das Kind für ein vermeintlich unangemessenes Verhalten zu bestrafen. Dabei werden die emotionalen Bedürfnisse des Kindes nach Nähe und Austausch gezielt missachtet, was dazu führt, dass das Kind Gefühle von Schuld, Ablehnung und Minderwertigkeit entwickelt. Ein typisches Beispiel wäre: „Solange du dich so verhältst, werde ich nicht mit dir sprechen!“
Für die Entwicklung einer sicheren Bindung ist eine konstante, unterstützende und liebevolle Beziehung zu den Eltern entscheidend. Strafendes Schweigen unterbricht diese Bindung und destabilisiert das Vertrauensverhältnis zwischen Eltern und Kind. Die bewusste Entziehung von emotionaler Unterstützung und Kommunikation kann das Selbstwertgefühl des Kindes beeinträchtigen und seine emotionale Entwicklung langfristig stören. Auf diese Weise lernt das Kind unbewusst, dass seine Gefühle und Bedürfnisse nur dann beachtet werden, wenn es den Erwartungen der Eltern entspricht. Dies kann das Vertrauen in die Eltern erheblich beeinträchtigen und die Fähigkeit des Kindes, seine eigenen Gefühle offen und angstfrei auszudrücken, stark einschränken.
Bedingte Liebe zeigen: Das bedeutet, dass Liebe nur unter bestimmten Bedingungen oder als Gegenleistung für ein bestimmtes Verhalten gezeigt wird. In diesem Erziehungsansatz wird dem Kind keine bedingungslose Liebe entgegengebracht, sondern die Liebe ist an Erwartungen geknüpft. Das Kind entwickelt dadurch die Vorstellung, dass es nur dann geliebt wird, wenn es die Erwartungen der Eltern erfüllt und sich „richtig“ verhält.
Bedingte Liebe wird meist nicht direkt ausgesprochen, sondern subtil durch das Verhalten der Eltern vermittelt. Ein Beispiel dafür ist, wenn das Kind sich nicht an die Regeln hält, reagieren die Eltern mit Kälte oder Desinteresse, was dem Kind die Botschaft vermittelt, dass es Liebe und Zuwendung nur dann erhält, wenn es das gewünschte Verhalten zeigt.
Anschreien: Mit aggressivem Ton und Körpersprache laut mit dem Kind zu sprechen hat weniger mit Erziehung zu tun und dient eher dazu, Macht über das Kind auszuüben. Dieser Ansatz kann das Kind einschüchtern und Distanz in der Beziehung zwischen Eltern und Kind schaffen. Beispiel: „Wie oft habe ich dir gesagt, dass du das nicht tun sollst!“
Ignorieren: Dies bedeutet, die Existenz oder die Gefühle des Kindes nicht zu beachten und so zu tun, als ob es unsichtbar wäre. Durch dieses Verhalten werden die emotionalen Bedürfnisse des Kindes vernachlässigt, was dazu führt, dass es sich wertlos fühlt. In Reaktion darauf versucht das Kind, durch alternative Verhaltensweisen, wie das Suchen nach Aufmerksamkeit oder Anerkennung, wahrgenommen zu werden. Ignorieren untergräbt die Bemühungen des Kindes, sich auszudrücken, und führt langfristig dazu, dass es lernt, die Bedürfnisse anderer zu erfüllen, um selbst Beachtung zu finden. Ein Beispiel dafür ist, wenn das Kind etwas erzählt und die Bezugsperson nicht darauf achtet oder bewusst den Blick abwendet.
Bestrafen: Darunter versteht man den Einsatz von physischen oder emotionalen Sanktionen, um ein unerwünschtes Verhalten des Kindes zu unterdrücken oder es dafür zur Rechenschaft zu ziehen. Bestrafen zielt hauptsächlich darauf ab, unerwünschte Verhaltensweisen kurzfristig zu unterdrücken, statt die tieferen Ursachen des Verhaltens zu verstehen. Oft wird das Verhalten nur oberflächlich kontrolliert, ohne dass man sich mit den tatsächlichen Motiven und Bedürfnissen des Kindes auseinandersetzt. Beispiel: „Wenn du dich weiterhin so verhältst, streiche ich dir dein Taschengeld!
Dieser Ansatz versucht, das Kind durch Angst oder Verlustgefühle zu disziplinieren. Für die emotionale Entwicklung des Kindes führt das oft zu innerer Unsicherheit und der Tendenz, seine echten Gefühle zu unterdrücken. In vielen Familien fördert Bestrafung die Entwicklung von Lügen als Bewältigungsstrategie. Besonders in autoritären und strengen Familien haben Kinder oft die Erfahrung gemacht, dass sie für das Äußern ihrer wahren Gefühle und Gedanken bestraft werden. So lernen sie, zu lügen, um Strafen zu vermeiden.
Obwohl körperliche Gewalt von vielen Eltern inzwischen abgelehnt wird, bleibt psychische Gewalt oft unbeachtet und wird als Erziehungsmethode durch alte Gewohnheiten fortgeführt. Daher ist es wichtig, dass Eltern und Pädagogen die Auswirkungen ihres Verhaltens gegenüber Kindern nicht nur in physischer, sondern auch in psychischer Hinsicht reflektieren. Es ist wichtig zu verstehen, dass das Kind nicht für unsere emotionalen Reaktionen verantwortlich ist. Mit anderen Worten: Das Kind „macht“ uns nicht wütend; vielmehr entscheiden wir uns, auf sein Verhalten mit Wut zu reagieren.
Niemand ist perfekt, und manchmal geraten wir in Situationen, in denen wir die Kontrolle über unsere Reaktionen verlieren. Doch Kinder sind nicht für unsere Reaktionen verantwortlich. Oft reagieren wir so, weil wir gerade überfordert sind oder weil wir unbewusst Verhaltensmuster aus unserer eigenen Kindheit wiederholen. In solchen Momenten sollten wir uns fragen: Warum reagiere ich so stark? Brauche ich vielleicht Unterstützung? Muss ich eine Pause machen? Habe ich zu viel Verantwortung übernommen? Erwarte ich von meinem Kind das Verständnis, das ich von meinem Partner oder meinem Umfeld nicht bekomme? Es ist wichtig zu verstehen, dass Kinder nicht die Ursache des Problems sind – sie sind nur der Auslöser in einer ohnehin angespannten Situation. Sie provozieren uns nicht absichtlich; vielmehr ist es unsere eigene emotionale Überforderung, die zur Eskalation führt.
Deshalb ist es in solchen Momenten am besten, Verantwortung für die eigenen Gefühle und Handlungen zu übernehmen und sich beim Kind zu entschuldigen. Wenn Sie das Gefühl haben, überreagiert zu haben, sprechen Sie offen mit Ihrem Kind darüber und zeigen Sie ehrlich, dass Sie mit Ihrem Verhalten unzufrieden sind. Eine Entschuldigung zeigt dem Kind, dass es menschlich ist, Fehler zu machen, und dass es wichtig ist, sich für Fehler zu entschuldigen. Dabei sollten Sie aber unbedingt darauf achten, dass das Kind versteht, dass es nicht für Ihre Gefühle verantwortlich ist.
Wenn ein Kind erkennt, dass es nicht für die Emotionen und das Verhalten anderer verantwortlich ist, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass es von anderen manipuliert oder kontrolliert wird. Dadurch fühlt es sich auch nicht schuldig oder verantwortlich für das Verhalten anderer und handelt weniger danach, was andere von ihm erwarten oder wünschen.