Fühlen Sie sich oft verantwortlich für den emotionalen Zustand anderer Menschen? Spüren Sie einen starken inneren Drang, Unterstützung zu leisten, sobald Sie den Eindruck haben, dass jemand Hilfe braucht, auch wenn Sie nicht ausdrücklich darum gebeten wurden? Kommt es häufig vor, dass Menschen Sie als ihre emotionalen Mülleimer benutzen und sich nur dann bei Ihnen melden, wenn sie etwas Belastendes oder Trauriges erlebt haben, um ihre emotionalen und psychischen Lasten bei Ihnen abzuladen und dadurch Erleichterung zu finden?
Sie setzen all Ihre finanziellen und emotionalen Ressourcen ein, um Menschen in Ihrem nahen Umfeld zu unterstützen, wenn sie Hilfe benötigen. Doch sobald Sie selbst Unterstützung brauchen, bleibt dies oft unbeachtet, und niemand bietet Ihnen seine Hilfe an. Fällt es Ihnen schwer, Nein zu sagen und klare Grenzen zu setzen? Sollte eine oder mehrere dieser Situationen auf Sie zutreffen, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass Sie in Ihrer Kindheit eine Form der „Parentifizierung“ erlebt haben.
Parentifizierung beschreibt eine Rollenumkehr zwischen Eltern und Kind, bei der das Kind Aufgaben übernimmt, die eigentlich in den Verantwortungsbereich der Eltern gehören. Anstatt das Kind in seiner emotionalen Entwicklung zu unterstützen, ihm zu helfen, seine Gefühle zu regulieren, seine Grenzen und Bedürfnisse zu erkennen und diese angemessen auszudrücken, übertragen die Eltern ihm Verantwortungen, die oft nicht seinem Reifegrad entsprechen. Dabei ignorieren die Eltern häufig die Gefühle des Kindes und vermitteln ihm die unbewusste Erwartung, die Bedürfnisse anderer über die eigenen zu stellen, um die Bindung zur Familie aufrechtzuerhalten.
Bei Parentifizierung sind die Eltern nicht in der Lage, ihrer Verantwortung gerecht zu werden, das Kind zu schützen, ihm emotionalen Halt und Orientierung zu bieten und es auf die Herausforderungen des Lebens vorzubereiten. Das Kind wird emotional von den Eltern im Stich gelassen und sieht sich gezwungen, die Fähigkeit zur Selbsthilfe entwickeln zu müssen, um mit den entstandenen Herausforderungen zurechtzukommen. Diese langfristige emotionale Vernachlässigung kann im Kind ein tiefes Gefühl der Einsamkeit und des Verlassenseins hinterlassen, was zu emotionaler Distanz oder Angst in zukünftigen Beziehungen führen kann.
Hier sind einige häufige Faktoren, die als mögliche Ursachen für Parentifizierung gelten können:
- Traumatische Erfahrungen der Eltern: Die Eltern stammen möglicherweise aus einem Elternhaus, in dem sie selbst Parentifizierung erfahren und traumatisiert wurden.
- Emotionale Überforderung: Die Eltern befinden sich in einer Scheidungsphase und sind emotional überfordert.
- Psychische Erkrankungen: Einer der Elternteile oder beide leiden unter psychischen Erkrankungen. Oder ein Elternteil ist krank, während der andere arbeiten muss, sodass dem Kind die benötigte Aufmerksamkeit und Unterstützung nicht gewährleistet werden kann.
- Suchtproblematik: Einer der Elternteile oder beide könnten alkohol-, drogen- oder anderweitig abhängig sein, sodass das Kind seine eigenen Bedürfnisse zurückstellt und die Rolle des Betreuers für die Eltern übernimmt.
- Verdeckter Narzissmus: Bei narzisstischen Eltern stehen ihre eigenen Bedürfnisse an erster Stelle, oft noch vor den Bedürfnissen des Kindes, was zu einer ungesunden Rollenumkehr und zur emotionalen Vernachlässigung des Kindes führen kann.
- Krieg oder Fluchterfahrungen: Erlebnisse von Krieg oder Flucht können zur Parentifizierung führen, wenn die Eltern mit den psychischen und sozialen Folgen dieser Erfahrungen überfordert sind.
- Sprachbarrieren: Sprachbarrieren können es Eltern erschweren, auf die Bedürfnisse ihrer Kinder angemessen einzugehen. Besonders bei schulischen Themen, wie der Unterstützung bei Hausaufgaben oder anderen Bildungsangelegenheiten, stoßen Eltern oft an ihre Grenzen und können ihre Kinder nicht ausreichend fördern. Dies führt dazu, dass Kinder aufgrund mangelnder Unterstützung bestimmte Nachteile erfahren.
- Übermäßige Selbstbeschäftigung: Die Eltern sind aus verschiedenen Gründen so stark mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, dass sie nicht in der Lage sind, angemessen auf die Bedürfnisse ihrer Kinder einzugehen.
- Fehlende elterliche Fürsorge: Dies betrifft insbesondere Kinder, die aufgrund unzureichender elterlicher Fürsorge bei engen Verwandten wie Großmüttern, Onkeln oder Tanten aufwachsen und nur dann Beachtung finden, wenn sie den Erwachsenen in irgendeiner Weise nützlich sind. In solchen Fällen werden diese Kinder häufig lediglich als Belastung wahrgenommen, wodurch ihre emotionalen Bedürfnisse unbeachtet bleiben.
Die häufigsten Verantwortungen, die Kinder bereits in jungen Jahren übernehmen, lassen sich wie folgt zusammenfassen:
- Übernahme von Haushaltsaufgaben: Ein Kind übernimmt regelmäßig Aufgaben im Haushalt, die normalerweise in die Verantwortung der Eltern fallen, wie das Putzen, Kochen oder Einkaufen. Es fühlt sich verpflichtet, dafür zu sorgen, dass der Haushalt reibungslos läuft, um den Eltern Arbeit abzunehmen.
- Emotionale Unterstützung: Ein Elternteil wendet sich häufig mit seinen emotionalen Problemen an das Kind, als wäre es ein Therapeut. Das Kind übernimmt die Rolle des Trösters und versucht, den Elternteil aufzumuntern und dessen Sorgen zu lindern. Es hört ihm zu und bietet Ratschläge an, obwohl es eigentlich selbst Unterstützung bräuchte. Hier fungiert das Kind als emotionale Stütze, eine Aufgabe, die eigentlich einem Erwachsenen zukommen sollte.
- Vermittlerrolle zwischen den Eltern: In einem Haushalt, in dem die Eltern oft streiten, wird das Kind zum Vermittler. Es versucht, zwischen Mutter und Vater zu schlichten und Lösungen für ihre Konflikte zu finden. Das Kind übernimmt hier die Verantwortung, die normalerweise Erwachsenen zukommen würde, und fühlt sich für das Familienklima verantwortlich.
- Betreuung von Geschwistern: Ein älteres Kind übernimmt die Betreuung seiner jüngeren Geschwister, wenn die Eltern abwesend oder überfordert sind. Es bereitet Mahlzeiten zu, hilft bei den Hausaufgaben oder bringt die Geschwister ins Bett. Diese Verantwortung ist für das Kind oft zu groß und raubt ihm die Möglichkeit, seine eigene Kindheit zu erleben.
- Ersatzpartnerrolle: In Haushalten mit alleinerziehenden Eltern oder wenn ein Elternteil emotional abwesend ist, übernimmt das Kind oft die Rolle eines emotionalen ‚Ersatzpartners‘. Das Kind begleitet den Elternteil zu sozialen Anlässen, bietet emotionale Unterstützung und fühlt sich in einer besonderen Rolle. Diese Situation zieht das Kind frühzeitig in die Erwachsenenwelt und beeinträchtigt seine gesunde Entwicklung.
- Finanzielle Verantwortung: In einer Familie mit finanziellen Schwierigkeiten beginnt ein Teenager zu arbeiten, um zum Familieneinkommen beizutragen. Das Kind fühlt sich gezwungen, eine finanzielle Last zu tragen, die eigentlich die Eltern übernehmen sollten, und hat dadurch weniger Zeit für Schule und Freizeit.
- Krankheitsbegleitung der Eltern: Ein Kind, dessen Elternteil chronisch krank ist, kümmert sich um dessen medizinische Bedürfnisse, erinnert an Medikamenteneinnahmen oder begleitet ihn zu Arztterminen. Es fühlt sich für das Wohl des Elternteils verantwortlich und übernimmt Aufgaben, die eigentlich von einem Erwachsenen ausgeführt werden sollten.
- Anpassungsschwierigkeiten in der Schule: Ein Kind, das viel Energie und Zeit für familiäre Pflichten aufwendet, hat oft Schwierigkeiten, die nötige Konzentration und Motivation für schulische Aufgaben aufzubringen. Gleichzeitig fällt es ihm oft schwer, auf Augenhöhe mit Gleichaltrigen zu interagieren. Seine reifere Rolle zu Hause führt dazu, dass es sich manchmal nicht richtig in seine Altersgruppe einfügt und möglicherweise als “anders” wahrgenommen wird. Diese Diskrepanz kann nicht nur die soziale Anpassung des Kindes erschweren, sondern kann auch zu einem Gefühl der Isolation und des “Nicht-Dazugehörens” beitragen.
Spielen ist für Kinder ein wichtiges Ausdrucksmittel, das zentrale Fähigkeiten wie Kommunikation, Selbstausdruck, Problemlösungsvermögen und Freude fördert. Darüber hinaus erfüllt es emotionale Bedürfnisse, insbesondere das Bedürfnis, von Gleichaltrigen gesehen, gehört und akzeptiert zu werden. Kinder, die jedoch früh Verantwortung übernehmen müssen, haben oft kaum die Gelegenheit, unbeschwert zu spielen, über das gemeinsame Spiel mit anderen Kindern in Kontakt zu treten und ihre Kindheit ungestört auszuleben.
Das Kind versteht oft die eigenen emotionalen Bedürfnisse nicht, da es frühzeitig gelernt hat, seine Emotionen zu unterdrücken, um die Stabilität des Familienlebens zu wahren. Die Eltern vermitteln ihnen häufig (meist unbewusst), dass das Spielen eine überflüssige Aktivität und reine Zeitverschwendung ist!
Diese Kinder fühlen sich oft schuldig, wenn sie selbst Unterstützung brauchen, Hilfe annehmen möchten oder ihre eigenen Bedürfnisse an erster Stelle setzen wollen, da ihnen implizit vermittelt wurde, dass es ihre Rolle ist, Unterstützung zu geben und nicht zu empfangen.
Der schwerwiegendste Effekt der Parentifizierung auf Kinder besteht darin, dass ihnen das Recht genommen wird, ihre Kindheit unbeschwert zu erleben und in einem gleichwertigen Verhältnis zu ihren Altersgenossen aufzuwachsen. Parentifizierung wird daher als eine Form emotionalen Missbrauchs oder elterlicher Vernachlässigung angesehen, da sie das kindliche Recht auf eine gesunde, altersgerechte Entwicklung stark beeinträchtigt.